Unter null/Momente im arktischen Eis
Die Dämmerung liegt über der arktischen Landschaft am Scoresbysund, dem größten und tiefsten Fjordsystem der Welt. Es ist Ende Januar und eisig kalt, als der Helikopter den Landeplatz von Ittoqqortoormiit ansteuert.
Ittoqqortoormiit, die nördlichste Gemeinde Ostgrönlands, ist der Ausgangspunkt für unser bevorstehendes Abenteuer. Nicht der kleine Ort mit seinen knapp 370 Einwohnern ist unser Ziel, sondern der Weg durch die Weite und Stille einer abgelegenen Gegend, hinein in die Dunkelheit, den Polarlichtern des Hohen Nordens entgegen.
Was uns erwartet, wissen wir nicht. Nur eines ist sicher: Angaangaq Angakkorsuaq, Schamane Grönlands, leitet uns auf dieser inneren und äußeren Reise fernab der Zivilisation. Angewiesen auf die Kraft und Ausdauer von 145 Grönlandhunden, bewegen wir uns vier Tage lang durch die Einöde. Nebelfelder und Schneetreiben verbinden Himmel und Horizont zu einem weißen Vorhang. Aus dem Nichts tauchen spitze Eisberge auf und verschwinden wieder. Wir gleiten über zugefrorene Fjorde, vorbei an schroffen Gebirgskämmen und Gletscherbrüchen. Was aus der Ferne wie ein Steinbruch erscheint, entpuppt sich aus der Nähe als tiefschwarzes, blankes Eis.
Umgeben von den Lauten der Musher und ihren Hunden, gleiten die 12 Schlitten über Eis und Schnee. Wäre nur die Kälte nicht, die sich langsam von Fuß- und Fingerspitzen auszubreiten droht. Plötzlich lichtet sich der Nebel und von der Morgensonne gefärbte Bergspitzen tauchen auf. Wir sind sprachlos, erneut, von dieser atemberaubenden Schönheit.
Nicht ahnend, dass der Höhepunkt unserer Reise noch bevorsteht, fahren wir weiter. Bergab zurück in die feuchte Kälte der tief hängenden Wolken, hinein in die Abenddämmerung unserem letzte Nachtlager entgegen. Der Mond leuchtet am Himmel, als wir die einsame Holzhütte erreichen. Hunde werden angeleint, Zelte aufgebaut und Schnee für Teewasser erhitzt. Nach und nach erleuchten Stirnlampen in der Dunkelheit. Und dann passiert, was wir so lange ersehnt hatten: die Polarlichter – unsere Ahnen, wie sich die Eskimo-Kalaalit erzählen – tanzen für uns am Himmel. Ergriffen vor Ehrfurcht fühlen wir uns kleiner denn je. Als winziger Teil des großen Ganzen. Glücklich und erschöpft fallen wir in einen tiefen Schlaf.
Der weiße Vorhang ist zurück, die letzten 50 km stehen bevor. Hunde bellen vor Aufregung, springen in die Luft, wollen den Schlitten hinterher, die sich wie an einer Perlenkette aufgezogen von uns wegbewegen und immer kleiner werden.
Weite, nichts als unendliches Eis. War das eben eine Bewegung? Imaginäre Eisbären und andere Wesen tauchen auf und sind doch nicht da. Es wird langsam dunkel und die Temperaturen sinken weiter ab: – 44° C. Ein Schneesturm zieht auf. Die Hunde sind erschöpft, alles verläuft wie in Zeitlupe. In der Ferne tauchen die ersten Lichter auf. Ittoqqortoormiit. Wie eine Fatahmorgana liegt es vor uns und scheint doch nicht näher zu kommen. Zwei Stunden werden zu einer eiskalten Ewigkeit. Auf den letzten Kilometern begleiten uns Einheimische auf ihren Motorschlitten. Familien warten seit Stunden auf ihre Väter.
Es ist später Abend. Wir kommen endlich an, bei uns selbst und einer heißen Dusche.